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§ 5 Anpassung der schweizerischen Gerichtsorganisation an
Art. 6-1 EMRK [S. 89]
I. Notwendigkeit einer Anpassung
85 Das Verwaltungsrecht wird nun sowohl vom strafrechtlichen als auch vom "zivil-
rechtlichen" Anwendungsbereich des Art. 6-1 EMRK erfasst. Die Kantone müssen im
"verwaltungsrechtlichen" Anwendungsbereich des Art. 6-1 EMRK ihre (Spezial-)
Verwaltungsgerichte als letzte kantonale Instanzen einsetzen. Ebenso muss der Bund den
Ausnahmekatalog der Art. 99-101 OG von der Generalklausel des Art. 97 OG entsprechend
kürzen
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. Im Verhältnis der drei Gewalten werden die (bislang untergewichtigen Verwaltungs-)
Gerichte längerfristig ein zusätzliches Gewicht erhalten.
Die blosse Änderung der in der unwirksam erklärten, präzisierenden auslegenden Erklärung
genannten Gesetze wird freilich gerade nicht genügen. Denn Art. 6-1 EMRK erfasst in seinem
"zivilrechtlichen" Anwendungsbereich nicht nur die freiwillige Gerichtsbarkeit und bloss zivil-
rechtsnahe Bereiche des Verwaltungsrechts, wie sie in der Liste der Gesetze aufgeführt wurden.
Es besteht die erhebliche Gefahr, dass die Tragweite des Art. 6-1 EMRK verkannt wird; das
Bundesgericht müsste dann die Kantone weiterhin "überraschen" und einen Gerichtsschutz
gegen Handlungen der Exekutive verlangen.
86 Die staatsrechtliche Beschwerde kann kantonale Verfahren, die sich nur vor
Verwaltungsbehörden a/jointfilesconvert/312451/bgespielt haben, nicht heilen
376
. Die staatsrechtliche Beschwerde erlaubt
nämlich nur die Prüfung der Rechtsfragen, ob ein verfassungsmässiges Recht, ein Recht der
Konvention oder der beiden Weltpakte verletzt worden ist
377
. Der Sachverhalt kann grundsätz-
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Im Hinblick auf den "zivilrechtlichen" Anwendungsbereich des Art. 6-1 EMRK sind folgende Bestimmungen
zumindest fragwürdig:
- Art. 99 lit. b, c, d, e, h, i;
- Art. 100 lit. b Ziff. 3 (soweit arbeitsmarktliche Bewilligungen betroffen sind, vgl. BGE 116 Ib 302), d Ziff. 2
und 3, e Ziff. 4, g, h, i, l Ziff. 2 und 3, m, n, o, q, r Ziff. 2, t Ziff. 2, u (unsicher, es handelt sich um politisch
äusserst wichtige Akte);
- Art. 101 lit. c kann problematisch sein.
Selbstverständlich müssten die hier aufgezählten Ausnahmeklauseln ausführlich anhand der einschlägigen
Gesetzgebung und der Rechtsprechung der Konventionsorgane diskutiert werden. Bei der vorliegenden
Aufzählung handelt es sich um eine vorläufige Infragestellung. Die Kürzung des Kataloges der Art. 99-101 wird
ohnedies das Anliegen einer Entlastung des Bundesrates unterstützen, vgl. zu den Reformpostulaten der
künftigen OG-Totalrevision: Amtl Bull S 1992 358.
376
Das Bundesgericht hat zudem keine hinreichende Entscheidbefugnis, vgl. N. 67. U.U. kann auch die
angemessene Verfahrensdauer verletzt sein, vgl N. 74.
377
Vgl. Art. 84 Abs. 1 OG und Art. 113 Abs. 1 Ziff. 3 BV; gegenüber den Kantonen hat die staatsrechtliche
Beschwerde für den Bereich der verfassungsmässigen Rechte (vgl. Gutachten BJ, VPB 1985 III Nr. 36, S. 237ff)
einen fast lükenlosen Schutz durch das Bundesgericht verwirklicht. Nach heutiger Anschauung ist Art. 113 Abs.
1 Ziff. 3 BV, welcher die Rechtsprechung über verfassungsmässige Rechte dem Bundesgericht zuweist