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83 Die Konvention hat in der Schweiz - wie auch in Schweden
361
und Österreich - zu
einer nachgerade "revolutionären Änderung"
362
des Organisationsrechtes geführt. Die Schweiz
befindet sich in einer ähnlichen Sachlage wie Österreich, nach dem ebenfalls bahnbrechenden
Erkenntnis vom 3.12.1984 des österreichischen Verfassungsgerichtshofes
363
. Danach konnte der
österreichische Vorbehalt zu Art. 5 EMRK nicht interpretativ auf Art. 6 EMRK ausgedehnt
werden. In der Folge hat der österreichische Verfassungsgeber die Art. 129a ff im Bundes-
Verfassungsgesetz eingefügt. In den österreichischen Bundesländern, die keine eigene Ver-
waltungsgerichtsbarkeit kennen, wurden unabhängige Verwaltungssenate errichtet, welche eine
Reihe von Zuständigkeiten, insbesondere Verwaltungsstrafsachen zu übernehmen haben
364
. In
der Lehre wurde der Entscheid, bloss Verwaltungssenate und keine allgemeinen Landesverwal-
tungsgerichte einzuführen, heftig kritisiert
365
. Möglicherweise werden die Verwaltungssenate zu
eigentlichen Landesverwaltungsgerichten ausgebaut werden
366
.
II. Ungültigkeit des Vorbehaltes hinsichtlich Öffentlichkeit
84 Im Urteil Weber
367
stand die Gültigkeit des Vorbehaltes zum Grundsatz der
Öffentlichkeit der Verhandlung und der Urteilsverkündung zur Debatte
368
. Der Gerichtshof hielt
den Vorbehalt für unwirksam, da er das Erfordernis der kurzen Inhaltsangabe der betreffenden
Gesetze gemäss Art. 64-2 EMRK offensichtlich nicht erfülle
369
. Nach dem Urteil Weber hat sich
361
Vgl. Danelius Hans, Judicial Control of the administration, a Swedish proposal for legislative reform, Mélanges
Gérard J. Wiarda, Köln usw. 1988, S. 115ff; Hofmann Rainer, Erweiterung des verwaltungsgerichtlichen
Rechtsschutzes in Schweden, Reaktion auf die Strassburger Rechtsprechung, EuGRZ 1990 10ff; Nørgaard,
Scandinavian Countries 65ff, insb. 71ff.
362
Der österreichische Verfassungsgerichtshof und in dessen Gefolge viele Autoren haben die beschwörende
Formel geschaffen, wonach die Konvention nicht so ausgelegt werden dürfe, dass sie die nationalen Gesetzgeber
zu einer revolutionären Änderung ihrer Rechtsordnungen zwinge, vgl. Urteil v. 27.6.1960, Juristische Blätter
1961 352.
363
Vgl. VfSlg 10 291 = EuGRZ 1985 85 = ÖJZ 1985 342.
364
Vgl. Art. 129a Ziff. 1 B-VG. Die unabhängigen Verwaltungssenate nahmen ihre Tätigkeit am 1.1.1991 auf.
365
Vgl. Kobzina Alfred, Verwaltungsgerichte und Verwaltungssenate, ÖJZ 1990 65ff m.w.H.; Berchtold Klaus,
Menschenrechtskonforme Neuorganisation der Verwaltungsrechtspflege, in: Pernthaler Peter (Hrsg.),
Föderalistische Verwaltungsrechtspflege als wirksamer Schutz der Menschenrechte, Wien 1986, S. 85;
Pernthaler, Rechtsweg 223; Merli Franz, Art. 6 EMRK und das österreichische Verwaltungsrechtsschutzsystem,
ZaöRV 1988 251ff, insb. S. 264ff; Bundeskanzleramt, Verfassungsdienst (Hrsg.), Die Gewährleistung eines
fairen Verfahrens, Beiträge zum Verfassungsrecht, Bd. 2, Wien 1987.
366
Die richterliche Unabhängigkeit ist zweifelhaft, da sich die Richter der Senate aus der Verwaltung rekrutieren,
vgl. zu diesem Problem N. 57.
367
ECHR Series A 177.
368
Vgl. AS 1974 2148.
369
Drei Wochen vor dem Urteil Weber hielt noch das Bundesgericht, BGE 116 Ia 66, diesen Vorbehalt für gültig,
denn Art. 64-2 EMRK "will ebenfalls verhindern, dass ein Vorbehalt einen generellen Charakter aufweist und
zudem den Parteien, den Organen der Konvention und dem einzelnen genau aufzeigen, welche Gesetze von den