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prüfungsbefugnis) unter Umständen bestehen bleiben
291
. Die Anwendung des Art. 6-1
EMRK auf Rechtsmittelverfahren hängt von deren Funktionen ab. Prüft die zweite Instanz
sowohl Tatsachen- als auch Rechtsfragen umfassend und ist der Tatbestand umstritten, so
kann etwa die Frage von Schuld oder Unschuld ohne mündliche Anhörung nicht
ordnungsgemäss entschieden werden
292
. Die zweite Instanz muss demnach eine volle Neu-
prüfung des Falles mit einer öffentlichen Anhörung vornehmen. Dagegen können
Rechtsmittelverfahren, die nur die zweitinstanzliche Überprüfung von Rechtsfragen erlauben,
mit den Erfordernissen des Art. 6-1 EMRK übereinstimmen, obwohl der Rechtsmitteleinleger
keine Gelegenheit hatte, persönlich gehört zu werden
293
. So steht beispielsweise im Be-
rufungsverfahren vor Bundesgericht die richtige Anwendung des Bundesprivatrechtes (auch
z.T. im Bereiche der freiwilligen Gerichtsbarkeit
294
), nicht aber der Sachverhalt zur
Debatte
295
. Diese Regelung ist sinnvoll, denn sie will die einheitliche Anwendung des
Bundesprivatrechtes in der Schweiz sicherstellen
296
. Art. 6-1 EMRK ist daher nicht verletzt,
wenn das Bundesgericht den Sachverhalt - entsprechend seiner Aufgabe - nicht mehr
überprüft
297
.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht erfüllt hinsichtlich der
Überprüfungsbefugnis die Anforderungen des Art. 6-1 EMRK, da die Art. 104
298
und 105
OG stets eine richterliche Überprüfung von Rechts- und Sachverhaltsfragen erlauben.
70 Die Kommission hat Art. 6-1 EMRK zunächst nicht auf verfassungs-
gerichtliche Verfahren angewandt, die Frage später aber offen gelassen
299
. Auch nahm der
Gerichtshof keine Geltung von Art. 6-1 EMRK im Verfahren vor dem deutschen Bundesver-
291
Vgl. Urteil Sutter, ECHR Series A 74, § 28; Urteil Axen, ECHR Series A 72, § 27; Urteil Pretto a.o., ECHR Series
A 71, §§ 21-23; Urteil Pakelli, ECHR Series A 64, § 29; Urteil Delcourt, ECHR Series A 11, §§ 25f; E 9315/81 X.
v. Austria, DR 34, 96; Trechsel, 7. Zusatzprotokoll 203 Anm. 19 m.w.H.; Frowein, Rechtsschutz 20f.
292
Urteil Ekbatani, ECHR Series A 134, § 32; Urteil Helmers, ECHR Series A 212-A, § 38.
293
Urteil Ekbatani, ECHR Series A 134, § 31; Urteil Helmers, ECHR Series A 212-A, § 36.
294
Vgl. Art. 44 OG, wo es gerade um den gerichtlichen Rechtsschutz gegen die Verwaltung geht. Da die präzisierte
auslegende Erklärung ungültig ist (vgl. N. 80ff), verpflichtet Art. 6-1 EMRK die Kantone zu einem gerichtlichen
Rechtsschutz.
295
Vgl. Art. 43 und Art. 63 Abs. 2 OG.
296
Vgl. Art. 114 BV.
297
E 7211/75, X. c. Suisse, DR 7, 104 oder VPB 1983 Nr. 127. Entsprechende Überlegungen gelten auch für die
staatsrechtliche Beschwerde.
298
Soweit Art. 104 Abs. 2 OG eine Überprüfung des Sachverhaltes ausschliesst, weil eine richterliche Vorinstanz
diesen bereits geprüft hat, ist auf die vorstehenden Überlegungen zur Berufung zu verweisen.
299
Vgl. Cohen-Jonathan, Convention 406 m.w.H.; Frowein/Peukert, Kommentar, N. 21 zu Art. 6 EMRK m.w.H.,
vgl. nunmehr E 12953/87, Ruiz-Mateos gegen Spanien, EuGRZ 1991 406ff, insb. S. 407.