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a.o. und im Kaplan-Bericht ging es um unbestimmte Rechtsbegriffe, die der zuständigen
Behörde einen Beurteilungsspielraum verschaffen und keiner Gerichtskontrolle bedürfen.
Eine gegenteilige Auffassung wäre "inconsistent with the existing, and long-standing, legal
position in most of the Contracting States"
273
. Entsprechendes muss auch beim Rechtsfolge-
ermessen gelten. Das Gesetz weist der zuständigen Behörde ausdrücklich einen Spielraum in
der Auswahl der Rechtsfolge zu, der keiner Gerichtskontrolle bedarf
274
.
2. Bei strafrechtlichen Anklagen
65 Nach Art. 6-1 EMRK gehört zur Entscheidung über die Stichhaltigkeit einer
strafrechtlichen Anklage die Schuldfeststellung und auch die Festsetzung
des Strafmas-
ses
275
. Soweit die Überprüfung einer verwaltungsbehördlich ausgesprochenen
Strafe den ordentlichen Zivil- und Strafgerichten mit voller Kognition obliegt
276
,
besteht im Hinblick auf Art. 6-1 EMRK kein Problem. Kontrollieren hingegen die
Verwaltungsgerichte die rein verwaltungsbehördlich ausgesprochenen
strafrechtlichen Anklagen, so müssen sie entgegen allfällige prozessuale
Vorschriften auch die Ermessensbetätigung prüfen
277
. Art. 6-1 EMRK führt also
dazu, dass im (Verwaltungs-) Strafrecht eine volle Gerichtszuständigkeit besteht.
In diesem sensiblen Bereich besteht demnach kein gerichtsfreier Raum
verwaltungsbehördlicher Ermessensbetätigung.
273
B 7598/76, Kaplan v. United Kingdom, DR 21, 5ff, § 161. Der Kaplan-Bericht wurde vom Ministerkomitee in der
Resolution DH (81) 1 bestätigt. Frowein, Überprüfungsbefugnis 146ff ist vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4
GG hinsichtlich der gerichtlichen Überprüfung von unbestimmten Rechtsbegriffen ebenfalls zurückhaltend.
274
Vgl. zur bedeutenden Ausnahme des Rechtsfolgeermessens bei strafrechtlichen Anklagen (z.B. Busse von Fr. 1.-
bis 5000.- oder 1 Tag bis 3 Monate Haft), vgl. folgende N. 65.
275
Vogler, IntKom, N. 213 zu Art. 6 EMRK; Cohen-Jonathan, Convention 405, BGE 115 Ia 410. In der
Strafrechtslehre ist es umstritten, ob die Strafzumessung nur eine richterliche Ermessensbetätigung oder eine
richterliche Rechtsanwendung darstellt, vgl. Schäfer Gerhard, Praxis der Strafzumessung, München 1990, S. 126ff
(insb. die Spielraumtheorie oder die Punktstrafentheorie); vgl. auch Trechsel, Kommentar, N. 4 zu Art. 63 EMRK.
276
So etwa die Regelung im Kanton St. Gallen, vgl. Art. 244 StPO SG (Verfahren vor den Gemeindebehörden,
wobei der Gemeinderat die Strafbehörde ist, Art. 247 Abs. 1 StPO SG). Gegen dessen Strafentscheid ist innert 14
Tagen die Berufung an die Gerichtskommission zulässig (Art. 256f StPO SG), die wie eine erste Instanz eine
vollständige Neubeurteilung vornimmt, vgl. Kley, Privatrecht 218.
277
BGE 115 Ia 406f; PVG 1988 Nr. 24.